Interview mit dem Generaloberen der Priesterbruderschaft St. Pius X.

Pater Davide Pagliarani auf dem von The Angelus organisierten Kongress

Interview vom 1. November 2024 veröffentlicht in der Zeitschrift „The Angelus“, November-Dezember 2024

                  Hüter der Tradition


„Den heutigen Katholiken bietet die Bruderschaft eine kompromisslose Wahrheit, die ihnen ohne Abstriche angeboten wird, und Mittel, um ganzheitlich daraus zu leben – für das Heil der Seelen und den Dienst an der ganzen Kirche.“


  1. The Angelus :  Herr Generaloberer, wie würden Sie die Rolle der Priesterbru­derschaft St. Pius X im Jahr 2024 erklären? Ist sie eher ein Zeugnis zugunsten der Tradition als eine parallele Kirche, wie manche behaupten? Ein missionarischer Einsatz weltweit, wie ihn früher die Spiritaner wahrgenommen haben? Oder noch etwas anderes?

Don Davide Pagliarani: Die Rolle der Bruderschaft im Jahr 2024 unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der Rolle, die sie seit ihrer Gründung spielt und die ihre Statuten mit den Worten präzisieren: „Das Ziel der Bruderschaft ist das Priestertum und alles, was sich darauf bezieht, und nichts anderes, als was es beinhaltet.“ Die Bruderschaft ist in erster Linie eine priesterliche Gemeinschaft, die auf die Heiligkeit der Priester ausgerichtet ist, und somit auf die Heiligkeit der Seelen und der ganzen Kirche durch die Heiligkeit des Priestertums. Wie unsere Statuten ebenfalls darlegen: „Die Bruderschaft ist ihrem Wesen nach apostolisch, weil es das Messopfer ebenfalls ist.“

Diese Rolle übt die Bruderschaft seit ihrer Gründung im besonderen Kontext einer beispiellosen Krise aus, die genau das Priestertum, die Messe, den Glauben und alle Schätze der Kirche erschüttern. In diesem Sinne ist sie eine Erinnerung an die Realität dieser Schätze und deren Notwendigkeit für die Wiederherstellung aller Dinge. Ohne es gewählt zu haben, lebt die Bruderschaft als privilegierte Zeugin der Tradition in einer Situation, in der diese wie ausgelöscht ist. Es ist eine Tatsache, dass die Bruderschaft in dieser Hinsicht als Zeichen des Widerspruchs zugunsten der Tradition der Kirche dasteht. Ihre Kraft, die Tradition zu verteidigen, ist einzigartig, insofern als ihre Ablehnung aller liberalen Reformen unnachgiebig und kompromisslos ist. Damit ist ihre Position eine direkte und vollständige Antwort auf das, was die Kirche in der heutigen Situation braucht.

Was vielleicht neu ist in den letzten Jahren, ist die Sichtweise vieler ratloser Katholiken auf die Bruderschaft. Für viele ist die Bruderschaft entdämonisiert. Sie wird nicht mehr als parallele Kirche, schismatisch oder auf dem Weg dorthin betrachtet, noch als eine Splittergruppe, die sich gegen die Moderne wehrt und, in ihren altmodischen Gewohnheiten verschlossen, unfähig ist, mit der Zeit zu gehen. Heute wird ihre Situation oft beneidet und die Schätze, von denen sie lebt, werden begehrt. Kurz gesagt, sie ist für viele ein Orientierungspunkt geworden. Die Gläubigen, die sie entdecken, fühlen sich von ihrer Predigt, ihrer Liturgie, der Nächstenliebe ihrer Priester, der Qualität ihrer Schulen und der Atmosphäre ihrer Kapellen angezogen. Und immer mehr ermöglicht es die Bruderschaft den Gläubigen und Priestern, die Schätze der Kirche wiederzuentdecken. Das ist sehr ermutigend.

  1. Was hat die Priesterbruderschaft St. Pius X. den heutigen Katholiken zu bieten, was die Ecclesia-Dei-Gemeinschaften nicht können?

Die früher der Kommission Ecclesia Dei, die heute nicht mehr existiert, angeschlossenen Gemeinschaften bieten auf ihrer Ebene die traditionelle Liturgie und im Allgemeinen auch einen traditionellen Katechismus. Oberflächlich betrachtet könnte man denken, dass sie wenig von der Bruderschaft unterscheidet. Doch sie selbst betonen ihre Abgrenzung, insbesondere in Bezug auf den Gehorsam. Sie beschreiben die Bruderschaft als von einem Hauch von Sedisvakantismus geprägt, als lebte sie, ohne dass sie jemandem Rechenschaft ablegen müsste, weshalb sie eine Gefahr für die kirchliche Einheit und den Glauben ihrer Gläubigen darstelle. Sie behaupten, vereinfacht gesagt, „innerhalb der Kirche“ das zu tun, was die Bruderschaft angeblich „außerhalb der Kirche“ zu tun versucht.

Was sie jedoch nicht sagen, ist, dass ihre Freiheit in Wirklichkeit begrenzt ist. Sie haben nur den Raum, der ihnen zugestanden wird von einer mehr oder weniger wohlwollenden Hierarchie, die mehr oder weniger von personalistischen und liberalen Prinzipien inspiriert und auf jeden Fall unfähig ist, der Tradition der Kirche ihren notwendigen und vorrangigen Platz zuzugestehen. Folglich ist ihr Apostolat und ihre Strahlkraft eingeschränkt und kompromittiert, sodass ihre konkrete Überlebensfrage immer beunruhigender wird. Nicht nur das: Der Grund ihres Anhangens an die Tradition ist nicht mehr verständlich. Ihnen wird diese begrenzte Freiheit im Namen eines eigenen Charismas, einer liturgischen Vorliebe, einer besonderen Sensibilität gewährt. Das hat mehrere äußerst schwerwiegende Konsequenzen.

Zunächst wird die Tradition nicht mehr als einzig notwendiges, unverzichtbares Gut verteidigt, das in der Kirche unveräußerliche Rechte hat. Sie wird als ein vorzuziehendes Gut beansprucht. Man fordert ein Recht auf die traditionelle Liturgie, ohne klar zu sagen, dass die moderne Liturgie unzulässig ist, weil sie den Glauben verdirbt. Man fordert ein Recht auf die traditionelle Lehre, ohne klar zu sagen, dass diese Tradition der einzige Garant für die Integrität des Glaubens ist, unter Ausschluss jeglicher Orientierung, die davon abweicht. Die Tradition kann jedoch nicht als das Sondergut dieser oder jener Gemeinschaft verteidigt werden, die nur das Recht fordert, selbst daraus zu leben und sie etwas anderem vorzuziehen. Die Tradition muss als Gemeingut der gesamten Kirche verteidigt werden und als alleingültig für jeden Katholiken eingefordert werden. Außerdem sind diese Gemeinschaften, abgesehen von ihrer prekären Lage, im öffentlichen Bekenntnis ihres Glaubens Bedingungen unterworfen. Insbesondere ist ihnen der Widerstand gegen jede Form von Liberalismus unmöglich. Doch ohne gleichzeitige Verurteilung der Fehler, die der Tradition widersprechen, kann diese nicht wirksam verteidigt werden. Und indem man über diese Fehler schweigt, nimmt man deren Schädlichkeit nicht mehr wahr und übernimmt sie nach und nach, ohne es zu merken.

Natürlich beurteilen wir hier nicht das Gute, das dieser oder jener Priester in dieser oder jener Situation tun kann, noch den Eifer, der ihn persönlich im Dienst der Seelen antreibt. Aber wir stellen fest, dass die schwierige Lage dieser Gemeinschaften und die Bedingungen, denen sie seit ihrer Gründung konkret unterworfen sind, ihnen objektiv die volle Freiheit nehmen, der universellen Kirche bedingungslos zu dienen.

Erzbischof Lefebvre hat sich seinerseits weder durch Drohungen noch durch Sanktionen einschüchtern lassen. So hat er der Bruderschaft die Mittel gegeben, ihren Kampf für die Kirche aufrechtzuerhalten in einer souveränen Freiheit: Nicht die falsche Freiheit einer gewollten Unabhängigkeit von jeder menschlichen Autorität, sondern die wahre Freiheit, fest und bedingungslos für die Wiederherstellung des Glaubens, des Priestertums und der Messe zu arbeiten. Den heutigen Katholiken bietet die Bruderschaft eine kompromisslose Wahrheit, die ihnen ohne Abstriche angeboten wird, und Mittel, um ganzheitlich daraus zu leben – für das Heil der Seelen und den Dienst an der ganzen Kirche.

  1. Was ist Ihrer Meinung nach das größte Hindernis für diejenigen, die zögern, die Messen der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu besuchen?

Der Grund, der die Gläubigen, die von der traditionellen Liturgie angezogen werden, wohl am meisten zurückhält, ist die scheinbare Illegalität unserer kanonischen Situation, die Tatsache, dass wir nicht offiziell von der kirchlichen Autorität anerkannt sind. Das bringt uns zurück zu der oben angeschnittenen Frage des Gehorsams. Auch wenn es für ein kirchliches Werk immer wünschenswert ist, von der Autorität konkret anerkannt und approbiert zu werden, gibt es faktisch außergewöhnliche Situationen, in denen dies nicht absolut notwendig ist. Das gilt es gut zu verstehen.

Die Situation der Bruderschaft ist abhängig von der allgemeinen Lage der Kirche, die seit mehreren Jahrzehnten eine beispiellose Krise erlebt. Papst Paul VI. sprach bereits von einer Selbstzerstörung der Kirche. Dies lässt sich leider durch die Unterstützung erklären, die den modernen Irrtümern von den höchsten Instanzen der Kirche gegeben wurde. Anlässlich des Zweiten Vatikanischen Konzils und in den daraus resultierenden Reformen sind diese Irrtümer tief in die gesamte Kirche eingedrungen und haben unzählige Gläubige zum Glaubensabfall geführt. Anstatt das Glaubensgut zum Heil der Seelen und zum Wohl der gesamten Kirche zu bewahren, hat der Papst seine Autorität in den Dienst der Zerstörung der Kirche gestellt.

Das unermessliche Verdienst von Erzbischof Lefebvre besteht darin, dass er diese Selbstzerstörung zurückwies und die Tradition der Kirche mutig bewahrte, indem er die zerstörerischen Neuerungen ablehnte und weiterhin den Seelen die übernatürlichen Güter der Lehre, der Messe und der Sakramente anbot. Gerade deshalb beschloss die kirchliche Autorität, ihn zu sanktionieren, sein Werk zu unterdrücken und ihm die kanonische Anerkennung zu entziehen. Es stand nichts weniger auf dem Spiel als die Bewahrung des katholischen Glaubens und der Liturgie als Ausdruck dieses Glaubens. Angesichts dieses Machtmissbrauchs konnte Erzbischof Lefebvre es nicht hinnehmen, sein Werk aufzugeben. Das hätte bedeutet, die Gläubigen zu verlassen, die ohne die gesunde Lehre und die traditionelle Liturgie keine Orientierungshilfen gegen die modernen Irrtümer gehabt hätten. Erzbischof Lefebvre erkannte, dass die Auflösung der Bruderschaft ein Machtmissbrauch war, der das Wohl der Kirche ernsthaft gefährdete. Die Autorität des Papstes jedoch ist dazu da, das Wohl der Kirche zu wahren, nicht es zu gefährden. Und Gehorsam schuldet man ihm, wenn es darum geht, zum Wohl der Kirche beizutragen, nicht, wenn es darum geht, ihrer Zerstörung zu dienen. Deshalb hatte Erzbischof Lefebvre, wenn auch gegen seinen eigenen Willen, den Mut, nicht zu gehorchen… um wirklich gehorsam zu sein. Er erinnerte sich, dass durch den Willen unseres Herrn Jesus Christus dem Heil der Seelen als oberstes Gesetz der Kirche alle anderen kirchlichen Gesetze untergeordnet sind. Er gehorchte lieber diesem höchsten Gesetz, auch mit dem Risiko, von der eigenen Hierarchie verworfen zu werden, als dass er gegen dieses Gesetz verstieß, indem er sich den über ihn hereinbrechenden Verboten beugte. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29).

Leider ist die Situation auch heute noch dieselbe, und die Bruderschaft stellt weiterhin das Wohl der Seelen und der Kirche an erste Stelle, ohne sich von Drohungen oder Kritik beirren zu lassen. Die Bruderschaft wäre sehr glücklich, von der höchsten Autorität anerkannt zu werden: Dies wäre ein Zeichen dafür, dass die Autorität wieder den Sinn für ihre Mission zurückgewinnt und versteht, was das wahre Wohl der Kirche ist. Sie würde sich sehr freuen, der Kirche in der Legalität dienen zu können. Aber solange der Preis für diese Legalität die Annahme des Unannehmbaren ist, der Irrtümer, die die Kirche zerstören, und der Liturgie, die den Glauben verfälscht, zieht sie es vor, unter ungerechten Missbilligungen zu wirken, als die Kirche und die Seelen, die in ihren Kapellen Zuflucht finden, zu verraten.

  1. Was ist der beste Weg für die Familien, das Angebot der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu nutzen?

Die Familien stehen besonders im Fokus der Bruderschaft, denn in ihnen werden Berufungen geboren und heranreifen, und auch jene, die später die Familien von morgen gründen werden. Wenn Familien sich in der Nähe unserer Priorate niederlassen, profitieren sie von einem reichen Gemeindeleben, das durch die Sakramente genährt, durch das Gebet strukturiert und durch zahlreiche andere Familien belebt wird, die ein tröstendes Netzwerk gegenseitiger Hilfe und christlicher Nächstenliebe bilden. Je stärker sich eine Familie in das Leben einer Kapelle oder eines Priorats einbringt, desto mehr festigt sie sich und wird fähig, selbst auszustrahlen. Der Altar wird für sie natürlicherweise ein Orientierungspunkt und die Quelle ihres geistlichen Lebens; ihre Hingabe ermöglicht es ihr, in Großherzigkeit zu wachsen; und allmählich löst sie sich durch das liturgische und sakramentale Leben vom Geist der Welt und fördert das Aufblühen christlicher Tugenden.

Natürlich muss man die Schulen erwähnen, die von der Bruderschaft oder von den mit ihr verbundenen Gemeinschaften geführt werden. In diesen Schulen wird versucht, vollständige Menschen zu formen, sowohl intellektuell und körperlich als auch moralisch und übernatürlich. Diese Schulen, obwohl sie wie jedes menschliche Werk unvollkommen sind, sind dennoch ein wahrer Segen für die Familien.

Schließlich möchte ich den Dritten Orden unserer Bruderschaft erwähnen, der den Familien einen sehr soliden geistlichen Rahmen bietet, um die Eltern bei ihren verschiedenen Pflichten und insbesondere bei ihrer Erziehungsaufgabe zu unterstützen. Durch diese engere Zugehörigkeit profitieren die Gläubigen von allen Gnaden der Bruderschaft, die durch die Gebete und Verdienste ihrer Mitglieder erworben wurden, und sie unterstützen sie geistlich in ihrem Kampf für die Kirche. In Verbindung mit ihrer persönlichen Treue zu den sehr einfachen Verpflichtungen ihrer Regel, ist dies eine große Hilfe für ihre persönliche Heiligung und die ihrer ganzen Familie.

  1. Was ist die größte Gefahr, der traditionelle Katholiken heute gegenüberste­hen? Worin sind sie am verletzlichsten?

Das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist die Bedrohung durch den Geist der Welt, der im Komfort, im Materialismus, in der Sinnlichkeit und Trägheit liegt. Unsere Gläubigen und auch die Mitglieder der Bruderschaft sind Menschen wie alle anderen, die durch die Erbsünde verwundet sind. Es ist wichtig, die mögliche Verderbnis des christlichen Lebens in der Seele jedes Katholiken – ob durch Menschenfurcht, Gleichgültigkeit, Egoismus oder durch Unreinheit – nicht naiv zu unterschätzen. Man muss alles tun, um sich selbst und vor allem die Jugend davor zu schützen. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen unserer Zeit, insbesondere durch den allgegenwärtigen Zugang zum Internet, das oft ein moralischer und ideologischer Sumpf ist. Die Invasion der Bildschirme und deren unkontrollierter Gebrauch müssen ernsthaft untersucht werden, um das Bewusstsein für die Probleme zu schärfen und gesunde Maßnahmen zu entwickeln, um die Schäden zu begrenzen und zunehmend zu verhindern.

Einen weiteren Punkt möchte ich hervorheben: Gerade bei Gläubigen, die immer schon traditionell orientiert waren, besteht das Risiko der Trägheit, weil sie in einer behaglichen Lage sind, die durch die Bemühungen ihrer Vorfahren geschaffen wurde. Es ist die Gefahr des Nachlassens. Es scheint mir im Gegenteil, dass uns die Anstrengungen unserer Vorfahren verpflichten. Die heute leichter zugänglichen Schätze der Messe und der Tradition sind uns gegeben, damit wir immer mehr aus ihnen leben können. Sie sollen uns nicht dazu verleiten, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Die Seelen, die es zu retten gilt, sind immer gleich zahlreich, und der Kampf für sie ist notwendiger und intensiver denn je. Die Zeit und die Ressourcen, die wir haben, sollten uns anspornen, uns noch mehr um unsere eigene Heiligung und den Ausbau apostolischer Werke zu bemühen. In dieser Hinsicht ist große Großzügigkeit erforderlich und ein absolut übernatürlicher Eifer, apostolisch zu wirken.

Schließlich besteht vielleicht noch eine letzte Gefahr darin, sich in der intellektuellen Bequemlichkeit zu wiegen, von der Richtigkeit des eigenen Standpunkts überzeugt zu sein und herablassend über „diejenigen, die Unrecht haben,“ zu urteilen. Die Notwendigkeit der Fortbildung ist jedoch universell, und es ist oft ein Fehler, zu glauben, man habe nichts mehr zu lernen, im Gegenteil. Es ist unerlässlich, sich weiterhin in wichtigen Themen fortzubilden, wo jeder Katholik ein Licht sein muss, um andere zu erleuchten. Andererseits ist es stets schädlich, andere als minderwertig zu betrachten, weil sie weniger empfangen haben. Im Gegenteil sollte ein dieses Namens würdiger Katholik, der von authentischer Nächstenliebe erfüllt ist, es sich zur Aufgabe machen, jene, die in der Unwissenheit sind, mit Wohlwollen aufzunehmen, um ihnen zu helfen, den wahren Glauben zu entdecken. Gelebte, wohlwollende und geduldige Nächstenliebe trägt mehr zur Ausstrahlung des Glaubens bei als gelehrte, scharfsinnige und herablassende Reden.

  1. Wir sind nun in der Mitte Ihres Mandats als Generaloberer. Welche Gedanken kommen Ihnen zu den vergangenen sechs Jahren?

der Dinge, die mich in den letzten sechs Jahren am meisten beeindruckt haben, ist die Großherzigkeit, die unsere Priester in ihrem Apostolat an den Tag legen, und die sie besonders während der Covid-Krise gezeigt haben. Mit Umsicht haben sie einige angemessene Risiken auf sich genommen und dabei oft große Kreativität bewiesen, um den Bedürfnissen der Seelen bestmöglich gerecht zu werden. Diese Zeit hat die Fähigkeit der Bruderschaft gezeigt, auf eine außergewöhnliche Situation angemessen zu reagieren und das geistige Wohl der Gläubigen an die erste Stelle zu setzen. Das war eine schöne Darstellung des oben erwähnten Prinzips: „Das Heil der Seelen ist das oberste Gesetz der Kirche.“

Eine weitere eindrückliche Lektion der letzten Jahre war der Motu proprio Traditionis custodes. Dieser Text, der sich logisch in die Perspektive des aktuellen Pontifikats einfügt, hat einmal mehr und endgültig die große Klugheit und tiefe Weisheit der Entscheidung von Erzbischof Lefebvre im Jahr 1988 bestätigt: Durch die Bischofsweihen trotz fehlendem päpstlichen Mandat gab er der Bruderschaft wirklich die Mittel, ihre Mission als „Hüterin der Tradition“ fortzusetzen. Die Richtigkeit dieser Entscheidung ist heute unbestreitbar. Wo wären wir ohne unsere Bischöfe? Wo stünde die Tradition in der Kirche? Und wer sonst hat heute die Freiheit, voll und ganz von den Schätzen der Kirche zu leben? Vielleicht lässt sich das Wachstum unseres Apostolats durch diese neue Evidenz erklären.

  1. Sie erwähnen unsere Bischöfe, und wir denken alle an den traurigen Tod von Bischof Tissier de Mallerais. Was bedeutet dieser Verlust für die Bruderschaft? Können Sie uns sagen, welche Konsequenzen dies für die Mittel der Bruderschaft zur Fortführung ihrer Mission hat? Anders gesagt, mit Blick auf Ihr halbes Mandat, was ist Ihr Ausblick für die kommenden sechs Jahre?

Der Tod von Bischof Tissier de Mallerais ist eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der Bruderschaft. Es ist wirklich eine Seite unserer Geschichte, die umgeblättert wird und in die Ewigkeit eintritt. Aber was für eine herrliche Seite! Bischof Tissier war von Anfang an dabei, von den ersten Stunden des epischen Geschehens um Erzbischof Lefebvre an. Er lebte in der Nähe unseres Gründers und teilte mit ihm die Freuden und Schmerzen, die das Wachstum der Bruderschaft begleiteten, bis er schließlich zu einem der vier Bischöfe gewählt wurde, die ihm nachfolgen sollten. Sein ganzes Leben war ein Leben brennender und mutiger Hingabe an den Kampf für den Glauben, für die Mission der Bruderschaft. Bis an die Grenzen seiner Kräfte stellte er sich in den Dienst der Kirche und der Seelen. Seine Großzügigkeit und sein Eifer trieben ihn weiter, als seine Schritte ihn tragen konnten. Sein Feuer, wenn er uns von Erzbischof Lefebvre und der Geschichte der Bruderschaft erzählte, war einzigartig. Seine Anwesenheit fehlt uns. Doch wir sind stolz auf Bischof Tissier de Mallerais. Stolz auf unseren Bischof und das Beispiel, das er uns hinterlässt.

Offensichtlich spricht die Vorsehung durch dieses Ereignis zu uns. Es ist klar, dass dieser Tod die Frage der Kontinuität des Werkes der Bruderschaft aufwirft, die nun nur noch zwei Bischöfe hat und deren Mission angesichts der heutigen schweren Verwirrung in der Kirche weiterhin dringend notwendig erscheint. Aber diese Frage kann nur in Ruhe und Gebet behandelt werden. Nach dem Beispiel von Erzbischof Lefebvre lässt sich die Bruderschaft von der Vorsehung leiten, die stets die zu gehenden Wege und zu treffenden Entscheidungen klar vorgegeben hat. Heute wie gestern leitet uns diese Vorsehung. Die Zukunft liegt in ihren Händen, folgen wir ihr vertrauensvoll! Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir unsere Verantwortung wahrnehmen – vor den Seelen und vor den Mitgliedern der Bruderschaft, vor der Kirche und vor Gott. Bleiben wir im Frieden und überlassen wir diese Angelegenheit vertrauensvoll Unserer Lieben Frau.

Hinsichtlich der Zukunft im allgemeinen möchte ich vor allem, dass in den kommenden Jahren Priester und Gläubige einer entscheidenden Frage größere Bedeutung beimessen: der Frage der Berufungen. Nicht nur in Bezug auf die Mittel, um immer mehr neue Rekruten für den Dienst Christi zu gewinnen, sei es im priesterlichen oder im Ordensleben, sondern auch in Bezug auf die Mittel, die Beharrlichkeit der Berufungen zu gewährleisten.

Und ich glaube, wir müssen insbesondere verstehen, dass wir mehr beten müssen. Ja, beten. Beten, dass Gott Arbeiter in seine Ernte sende, denn sie ist groß und es sind wenige, die sie einbringen. Und beten, um Dank zu sagen für die Berufungen, die wir bereits erhalten haben, denn die letzten Jahre waren diesbezüglich sehr ermutigend. Doch das Ideal der Heiligkeit sollte die geweihten Seelen immer mehr anziehen und in unserer Jugend noch mehr Anklang finden. Die Seelen warten. Sie dürsten. Sie brauchen Legionen von Aposteln. Und diese Apostel, sei es als Hirten oder als kontemplative Seelen, werden nur von Gott berufen. Es ist also notwendig, zu beten, dass Gott ruft und dass die großherzigen Seelen seine Stimme hören können und ihr treu folgen. Erbitten wir besonders diese Gnade von der Unbefleckten Jungfrau Maria, Unserer Lieben Frau vom Mitleiden, Mutter der Priester und Vorbild der Ordensseelen.

Gott segne Sie.

Don Davide Pagliarani                                                         The Angelus
Generaloberer                                                November-Dezember 2024