Erzbischof Marcel Lefebvre: Wie der Hirsch dürstet nach der Quelle
Leider stimmt es, dass die Erwachsenen mehr denn je gefangen und gebannt sind von all den Erfindungen der modernen Wissenschaft, welche die Welt in eine fieberhafte Tätigkeit versetzen; es stimmt, dass die Gemüter der Menschen mehr denn je angezogen werden von allem, was den Sinnen schmeichelt, – wie sollen da die jungen Leute diesem Einfluss widerstehen, wenn sie nicht im Grunde ihres Herzens und ihres Verstandes eine noch mächtigere Anziehungskraft zu Gott hin verspüren, als Ergebnis einer erhabeneren Kenntnis der unergründlichen Reichtümer seiner Erbarmung, seiner Allmacht und seiner unendlichen Liebe, die er offenbart hat, indem er seinen göttlichen Sohn zu unserem Bruder und zu unserer Nahrung gemacht hat? Und wirklich, unser Herr lehrt uns, dass „das ewige Leben in der Erkenntnis Gottes und seines göttlichen Sohnes Jesus Christus besteht“. Werden wir des ewigen Lebens verlustig gehen wegen unserer Unkenntnis der göttlichen Wahrheiten und den Lockungen dieses kurzen und hinfälligen Lebens erliegen?
Wir stellen bei den Menschen unseres Jahrhunderts eine fast krankhafte Unruhe fest, die verursacht wird durch eine Überbeanspruchung unserer Sinnesorgane, die im Missverhältnis steht zu den Körperkräften, die Gott uns gegeben hat. Das Radio, das Kino und
ganz allgemein die modernen Erfindungen sind zu einem großen Teil die Ursache hiervon. Aber das wäre ein geringeres Übel, wenn wir sie mit Mäßigung zu gebrauchen verstünden. Aber sehen wir nicht im Gegenteil die Hast und Gier, mit denen wir uns diesen gewalttätigen Eindrücken preisgeben? Die Folgen davon erleben wir deutlich in unserer Erkenntnisfähigkeit, die in ihrer Tätigkeit von unserem Nervensystem abhängt.
Daher kommt es, dass die Kinder und Jugendlichen große Schwierigkeiten haben, dem Unterricht mit fortgesetzter Aufmerksamkeit zu folgen, dass die Leute im reiferen Alter Widerwillen empfinden gegen eine länger andauernde geistige Arbeit, gegen eine etwas längere angespannte Aufmerksamkeit.
Wie wird es dann erst sein, wenn Fragen des Glaubens zur Sprache kommen, bei denen die Sinneswahrnehmungen nur sehr geringen Anteil haben, bei denen wir uns von der fühlbaren Welt zu den geistigen Tatsachen erheben müssen? „Wer wird hingegen leugnen“, sagt unser Heiliger Vater, Papst Pius XI., „dass die Menschen, die von Gott nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen wurden, sich jetzt darüber klar werden, mehr denn je, dass die irdischen Güter außerstande sind, den Einzelnen und den Völkern das wahre Glück zu verschaffen, die Menschen, die mitten im Überfluss leben aufgrund des heutigen materiellen Fortschritts und die aber ihr Ziel in Gott, der unendlichen Vollkommenheit haben? Daher fühlen sie deutlicher in ihrem Herzen diesen Drang nach einer höheren Vollkommenheit, die der Schöpfer in das Innerste der geistigen Natur gelegt hat.“
Was müssen wir tun, um diese gewaltige Sehnsucht nach Gott und der ewigen Welt zu stillen und dieser Unkenntnis Gottes und der göttlichen Geheimnisse zu begegnen?
Als erstes müssen wir den Wunsch hegen, uns die wahre Weisheit, die Erkenntnis der himmlischen Welt zu erwerben.
Sodann müssen wir diese Weisheit aus ihrer wahren Quelle, der Kirche, schöpfen wollen.
Schließlich und vor allem müssen wir uns dem Gebet hingeben. Tatsächlich reicht es nicht, dass der Priester spricht, dass er schreibt, sondern wir müssen ihm vor allem mit dem aufrichtigen Verlangen zuhören, uns unterweisen zu lassen.
Der Prophet spricht: „Mein Sohn, verlass dich nicht auf deinen eigenen Verstand, ... suche die Weisheit, merke auf deine Unterweisung, lass sie nicht unnütz sein, denn sie ist dein Leben ... Menschen, euch rufe ich dies zu; hört zu, denn ich habe euch Herrliches zu verkünden.“ So ermahnt er die Gläubigen, seinen Worten zu lauschen und stellt sich selbst als Beispiel hin: „Ich habe die Weisheit begehrt und sie wurde mir gegeben; ich habe sie geliebt und erforscht von Jugend auf.“
Hüten wir uns daher, in uns und vor allem in den Herzen unserer Kinder diesen Drang, Gott zu erkennen und zu lieben, zu ersticken, Gott, der im Innersten jedes menschlichen Wesens sich befindet, gemäß dem Wort des hl. Augustinus: „Du, o Herr, hast uns für dich erschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir.“ Wie der Hirsch dürstet nach der Quelle, an der er seinen Durst stillen kann, wollen auch wir zur Quelle der Weisheit uns auf den Weg machen.
Erzbischof Marcel Lefebvre am 25. Januar 1948