Erzbischof Marcel Lefebvre - Aus einem Brief an Kardinal Ottaviani
20. Dezember 1966
Ich wage aber zu sagen, dass mir das gegenwärtige Übel viel schwerwiegender erscheint als eine Leugnung oder ein Infragestellen einer einzelnen Wahrheit unseres Glaubens. Dieses Übel zeigt sich in unseren Tagen in einer äußersten Verwirrung der Gedanken, in einem Zerfall der Einrichtungen der Kirche, der Ordensgemeinschaften, der Seminare, der katholischen Schulen, mit einem Wort alles dessen, was der ständige Halt der Kirche war. Dieses Übel ist aber nichts anderes als die logische Fortsetzung der Häresien und Irrtümer, welche die Kirche seit den letzten Jahrhunderten untergraben, besonders seit dem Liberalismus des vorigen Jahrhunderts, der sich bemüht hat, die Kirche mit den Ideen, die zur Französischen Revolution geführt haben, um jeden Preis zu versöhnen.
Die Kirche ist in dem Maß erfolgreich vorangeschritten, als sie sich diesen Ideen, die der gesunden Philosophie und der Theologie zuwiderlaufen, entgegengestellt hat; hingegen hat jeder Kompromiss mit diesen subversiven Ideen eine Anpassung der Kirche an das allgemeine Recht zur Folge gehabt und damit die Gefahr, sie zu einer Sklavin der bürgerlichen Gesellschaft zu machen.
Im Übrigen haben die Päpste jedes Mal, wenn sich Gruppen von Katholiken von diesen Mythen angezogen fühlten, sie mutig zur Ordnung gerufen, aufgeklärt und, wenn es notwendig war, verurteilt. Der katholische Liberalismus ist von Pius IX. verurteilt worden, der Modernismus von Leo XIII., der Sillonismus vom hl. Pius X., der Kommunismus von Pius XI. und der Neomodernismus von Pius XII.
Dank dieser wunderbaren Wachsamkeit festigte und entwickelte sich die Kirche. Die Bekehrungen von Heiden und Protestanten waren sehr zahlreich. Die Häresien hatten eine vollständige Niederlage erlitten und die Staaten waren zu einer der katholischen Lehre mehr entsprechenden Gesetzgebung bereit.
Dennoch gelang es Gruppen von Ordensleuten, die von diesen falschen Ideen durchdrungen waren, diese, dank einer gewissen Nachsicht der Bischöfe und der Duldung gewisser römischer Zentralbehörden, in der Katholischen Aktion und in den Seminaren zu verbreiten. Bald sollten aus dem Kreis dieser Priester die Bischöfe gewählt werden.
Diese Situation fand also das Konzil vor, als es sich durch die vorbereitenden Kommissionen rüstete, die Wahrheit angesichts solcher Irrtümer zu verkünden, um diese für lange Zeit aus der Mitte der Kirche zu verdrängen. Das wäre das Ende des Protestantismus und der Beginn einer neuen, fruchtbaren Ära für die Kirche gewesen.
Aber diese Vorbereitung wurde auf abscheuliche Weise verworfen, um der ärgsten Tragödie Platz zu machen, welche die Kirche jemals erlitten hat. Wir waren Zeugen der Vermählung der Kirche mit den liberalen Ideen. Es hieße Offenkundiges leugnen und die Augen verschließen, wollte man nicht mutig zugeben, dass das Konzil jenen, die sich zu den eben aufgezählten, von den Päpsten verurteilten Irrtümern und Strömungen bekennen, die Möglichkeit gegeben hat, rechtens zu glauben, dass ihre Lehren in Zukunft anerkannt sein würden.
Während das Konzil sich darauf vorbereitet hatte, eine leuchtende Wolke in der Welt von heute zu sein, was möglich gewesen wäre, wenn man die vor dem Konzil erarbeiteten Texte benützt hätte, in denen im Hinblick auf die modernen Probleme ein feierliches, auf der gesicherten Lehre beruhendes Bekenntnis enthalten war, kann und muß man leider feststellen:
Dort, wo das Konzil Neuerungen eingeführt hat, hat es fast durchwegs die Gewissheit von Wahrheiten erschüttert, die nach der Lehre des authentischen Lehramtes der Kirche endgültig zum Schatz der Überlieferung gehören.
Ob es sich nun um den Umfang der Jurisdiktion der Bischöfe, die beiden Quellen der Offenbarung, die Inspiration der Heiligen Schrift, die Notwendigkeit der Gnade für die Rechtfertigung, die Notwendigkeit der katholischen Taufe, das Gnadenleben bei den Häretikern, Schismatikern und Heiden, die Ehezwecke, die Religionsfreiheit, die letzten Dinge usw. handelt – die überlieferte Lehre war in diesen grundlegenden Punkten klar und wurde an allen katholischen Universitäten in gleichem Sinn gelehrt. Aber von nun an gestatten zahlreiche Texte des Konzils, welche diese Wahrheiten behandeln, diese zu bezweifeln.