Der heilige Thomas von Aquin und die Sammlung
Unsere Gedanken richten wir nicht immer auf einen Punkt. Oft schweifen sie einfach umher. Uns fällt dies ein und das. Wir sehen dies und hören jenes und lassen uns von unseren Assoziationen treiben. Das nennt man Zerstreuung. Die Gedanken sind in viele Richtungen unterwegs.
Manchmal aber ist unsere Aufmerksamkeit wirklich auf einen einzigen Punkt gerichtet. Wenn wir zum Beispiel in dichtem Stadtverkehr mit dem Auto fahren, dann ist unsere ganze Aufmerksamkeit bei dem, was gerade auf der Straße vor sich geht. Oder wenn jemand einen spannenden Film anschaut, dann ist seine Aufmerksamkeit an einem einzigen Punkt, nämlich beim Geschehen, das sich auf dem Bildschirm abspielt. Die Gedanken sind dann zwar nicht mehr in alle Richtungen zerstreut, aber wirkliche „Sammlung“ kann man das auch nicht nennen. Denn die Gedanken sind bei Dingen, die nicht wirklich den Sinn und das Ziel unseres Lebens ausmachen, sondern beschäftigen sich mit Nebensachen.
Auch wer mit Freunden am Kaffeetisch sitzt, richtet seine Aufmerksamkeit auf die Personen, mit denen er zusammensitzt, oder auf die, über die gesprochen wird. Von einer solchen Kaffeerunde wird man aber nicht behaupten, dass es hier um innere Sammlung geht. Ähnliches gilt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit ganz der Arbeit schenken, mit der wir gerade beschäftigt sind. Zwar sind unsere Gedanke dabei nicht zerstreut, aber Sammlung liegt noch nicht vor.
Nach Dietrich von Hildebrand[1] kann man erst dann von Sammlung reden, wenn sich unsere Gedanken auf die wesentlichen Dinge des Lebens richten, nämlich auf Gott, den Sinn und das Ziel unseres Lebens. Wenn wir beten, dann bemühen wir uns, unsere ganze Aufmerksamkeit Gott zu schenken. Wenn uns das gelingt, dann beten wir mit Sammlung.
Außerhalb des Gebetes wird es uns in diesem Leben kaum gelingen, unsere ganze Aufmerksamkeit bewusst auf Gott zu richten. Die vielen Aufgaben, mit denen wir uns jeden Tag beschäftigen müssen, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Für ein wirklich christliches Leben reicht es aber nicht aus, allein während des Gebetes an Gott zu denken. Die Heiligen bemühten sich den ganzen Tag um Sammlung. Uns gewöhnlichen Menschen gelingt es zwar nicht, den ganzen Tag so gesammelt zu sein wie beim Gebet, aber wir können versuchen, nicht allein auf die Aufgabe zu achten, die wir gerade erledigen müssen, sondern gleichzeitig bei Gott zu bleiben. Damit das gelingt, müssen wir jeder Beschäftigung die Stelle einräumen, die ihr vor Gott zukommt, sie nicht wichtiger nehmen, als sie vor Gott ist. Wir sind bei der Arbeit dann gesammelt, wenn wir vor Christus stehen und alle Dinge um uns herum auf den Platz rücken, der ihnen vor Gott zukommt.
Wer gesammelt ist, der lässt sich durch das, was um ihn herum geschieht, nicht ganz von Gott ablenken. Das ist nicht leicht, denn vieles um uns herum macht sich wichtig und will unsere ganze Aufmerksamkeit erhalten. So geschieht es leicht, dass wir uns verlieren an die jeweilige Situation und gar nicht mehr daran denken, was eigentlich der Sinn und das Ziel unseres Lebens ist.
Wenn wir die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen, aber von Gott aus betrachten, dann können wir trotz der Beschäftigungen irgendwie bei Gott bleiben. Wenn sich zum Beispiel eine Mutter um ihre Kinder kümmert, wird sie zwar nicht immer bewusst an Gott denken können; wenn sie sich aber klarmacht, dass sie damit Gott dient, dann verliert sie sich nicht ganz an die gegenwärtige Situation.
Dietrich von Hildebrand vergleicht die Verbundenheit mit Gott mit der Liebe zwischen zwei Menschen. Bei allem, was ein Liebender tut, beflügelt ihn die Liebe. Egal, was er tut, es steht nie allein diese Beschäftigung im Vordergrund, sondern die Liebe prägt die Atmosphäre. So prägt bei einem Gesammelten die Ausrichtung auf Gott alles, was er tut.
Es gibt also drei Stufen in der Ordnung unserer Gedanken: Bei der ersten Stufe richten wir unsere Gedanken zwar auf einen Punkt, aber nicht auf den wesentlichen, nicht auf den Sinn und das Ziel unseres Leben, nicht auf Gott. (Wir konzentrieren uns z.B. auf eine Arbeit oder einen Film.) Bei der zweiten Stufe möchten wir unsere Aufmerksamkeit Gott schenken, daneben müssen wir uns aber auch mit den Dingen des Alltags beschäftigen. Wir sind der Absicht nach zwar bei Gott, mit unseren Gedanken aber auch bei den Beschäftigungen. (Z.B. arbeiten wir in der Absicht, Gott zu dienen.) Bei der dritten Stufe sind wir wirklich bewusst und ausschließlich bei Gott. (Das geschieht beim Gebet und der Betrachtung.)
Ein Heiliger, von dem wir die Sammlung lernen können, war der heilige Thomas von Aquin. Er war nicht nur gesammelt, wenn er betete, sondern er war auch gesammelt bei seiner Arbeit. Seine Biographen und die Zeugen des Heiligsprechungsprozesses schildern uns diesen heiligen Gelehrten als einen ganz gesammelten Mann. Wilhelm von Tocco, sein erster Biograf, sagt von ihm, er sei ein Mann von wunderbarer Sammlung gewesen[2], ein Mann, der auf wunderbare Weise ein betrachtendes Leben geführt hat.
Thomas gelang es also besonders gut, auch während seiner Arbeit mit seinen Gedanken bei Gott zu verweilen. In seinen wissenschaftlichen Werken beschäftigte er sich nicht ausschließlich mit Gott sondern auch mit irdischen Fragen. Wenn er sich aber mit diesen weltlichen Fragen auseinandersetzte, dann hat er die Dinge der Welt von Gott aus betrachtet hat und durch seine Arbeit bewusst Gott gedient. Ptolomäus von Lucca, ein Zeitgenosse des hl. Thomas, sagt von ihm: „All die Zeit über war […] sein Geist so beständig mit jeder Art von Zweifelsfragen beschäftigt, sowohl tätig als auch rein betrachtend, dass er in ständiger Geistesabwesenheit zu leben schien. Er weihte so sehr all seine Kraft dem Dienste Gottes, wie jemand, der von dieser Welt nur berührt wird, auch wenn er in ihr lebt.“[3]
Thomas versank nicht im Strudel der alltäglichen Dinge und er versank nicht in seiner Arbeit, sondern er behielt immer Gott im Blick. Wie konnte ihm diese Sammlung gelingen? Die wichtigste Voraussetzung für die Sammlung ist der innere Abstand zur Welt.
Thomas hielt Distanz zur Welt und ließ sich auch vom Glanz der Welt nicht einnehmen. Die weltlichen Dinge waren in seinen Augen Nebensache. Wilhelm von Tocco erzählt, als einmal Thomas mit seinen Schülern von Saint-Denis nach Paris zurückkehrte und die Stadt vor ihren Augen lag, sagten seine Schüler zu ihm: „Meister seht Ihr, wie schön die Stadt Paris ist? Möchtet ihr nicht Herr dieser Stadt sein?“ Thomas antwortete: „Die Stadt würde mir ja, wenn sie mein wäre, wegen der Sorge um die Regierung die Betrachtung des Göttlichen rauben und die Tröstung der Seele behindern. Denn je mehr jemand von der Liebe zum Zeitlichen bedrängt wird, umso gefährlicher wird er vom Himmlischen getrennt.“[4]
Selbst als er von König Ludwig IX. an die königliche Tafel eingeladen war, schenkte er seine Aufmerksamkeit nicht den Leckerbissen, sondern weilte in Gedanken bei theologischen Fragen. Als er neben dem König an der Tafel saß, schlug er auf den Tisch und sagte: „Jetzt habe ich ein gutes Argument gegen die Irrlehre der Manichäer!“[5]
Weil Thomas auch bei seiner wissenschaftlichen Arbeit bei Gott verweilte, erleuchtete Gott ihn ganz besonders. Wilhelm von Tocco wenigstens ist davon so überzeugt, dass er immer wieder darauf zurückkommt. Durch Gottes Fügung sei von seinen Lippen eine so großartige Lehre geflossen. Niemand, der ihn gehört habe, zweifle, „dass Gott ihn mit den Strahlen eines neuen Lichtes erleuchtet habe.“ Es schien, dass Thomas „den höchsten Grad seines Studiums in der Weisheit des Göttlichen erreicht habe.“ Er sei ergötzt worden „durch den Genuss der göttlichen Weisheit.“[6] und so fort.
Wilhelm von Tocco vergleicht Thomas von Aquin mit seinem Namensvetter Thomas dem Apostel, und sagt vom heiligen Lehrer, er sei in die offenstehende Seite Christi eingedrungen und habe dann die Geheimnisse Gottes mit einer so sicheren Erkenntnis beschrieben, als habe er sie vor Augen und berühre sie mit der Hand.[7]
Beim heiligen Thomas scheint der Unterschied zwischen Arbeit und Gebet geradezu zu verschwimmen. Er betet während seiner Arbeit und das Ergebnis seiner Arbeit ist gleichzeitig auch das Ergebnis seines Betens. Wilhelm von Tocco schreibt: „Daher glaubt man ganz sicher, was offenbar bewiesen ist, dass der Doktor dank seines Gebetes oder seiner Frömmigkeit fromm von Gott empfing, was er schrieb, lehrte und diktierte.“ Und er führt als Zeugen den Gefährten des hl. Thomas an, den Bruder Reginald. Dieser habe ihm folgendes berichtet: „Sooft er [Thomas] studieren, erklären, vorlesen, schreiben oder diktieren wollte, begab er sich zuvor im verborgenen zum Gebet. Er betete, während er in Tränen ausbrach, darum, er möge in Wahrheit die göttlichen Geheimnisse finden.“[8]
Die Themen, über die er bei seiner Arbeit nachdachte – Gott, Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung – waren ihm vertraut aus seinem Gebet. Er stand Gott nicht gegenüber wie ein kühler Forscher, sondern wie ein guter Freund.
Thomas schreibt, dass es zwei Arten von Wissen gibt. Die eine Art erwirbt man sich dadurch, dass man studiert, mit seiner Vernunft alles bedenkt und richtig beurteilt. Die andere Art erwirbt man sich nicht durch die Vernunft, sondern sie ist eine Gabe des Himmels. Sie macht die Seele Gott ähnlich und schenkt ihr eine gewisse innere Verwandtschaft mit Gott. Durch sie weiß man nicht nur etwas über Gott, sondern erfährt Gott durch das Wirken seiner Gnade.[9] Was Thomas über Gott wusste, war von dieser zweiten Art. Seine Sammlung ließ Gott ungehindert wirken in seiner Seele.
Anmerkungen
[1]Dietrich von Hildebrand: Umgestaltung in Christus, Einsiedeln 1950, S. 80 ff
[2]Guilelmus de Tocco: Vita S. Thomae Aquinatis, Cap 47: vir miro modo contemplativus
[3]Ptolomäus von Lucca: Kirchengeschichte, Buch XXII, 22. Kapitel, zit. nach Eckert: Das Leben des heiligen Thomas von Aquino erzählt von Wilhelm von Tocco und andere Zeugnisse zu seinem Leben, S. 271 f.
[4]Wilhelm von Tocco: Das Leben des hl. Thomas von Aquin, Kap 42, zit. nach Eckert, S. 139 f
[5]Ebd. Kap. 43, S. 141
[6]Ebd. Kap. 13, S. 98
[7]Ebd. Kap. 15, S. 102
[8]Ebd. Kap. 30, S. 126
[9]Summa Theologia II.II.45.2