Das Fegfeuer und die Nächstenliebe

Quelle: Distrikt Deutschland

Keinen Menschen wahrhaft guten Willens kann das Schicksal der im Fegfeuer leidenden Kirche gleichgültig lassen. Es ist sehr sinnvoll und heilsam, über diese Wahrheit oft nachzudenken, denn es spornt auch die übernatürliche Liebe zu den Armen Seelen an.

 

Das Fegfeuer ist ein Ort und Zustand der Läuterung durch zeitliche Strafleiden. Aus dem Glauben besitzen wir folgende Sicherheit: „Die Seelen derjenigen, die in wahrer Bußgesinnung in der Liebe Gottes abgeschieden sind, bevor sie durch würdige Buße für ihre Fehler und Unterlassungen Genugtuung geleistet haben, werden durch Läuterungsstrafen nach dem Tode gereinigt“ (Konzil von Florenz, 1439). Der Fegfeuerglaube ist christliches Urgut, er war von Anfang an der lebendige Glaube der Christenheit, längst bevor spätere Jahrhunderte die eigentliche Dogmatisierung brachten.

 

Jesus Christus erklärt von den Sünden wider den Heiligen Geist, sie können weder in dieser Welt noch in der zukünftigen vergeben werden (Mt 12,32). Damit sagt er, dass andere Sünden nicht bloß in dieser, sondern auch in der zukünftigen Welt (also im Fegfeuer) vergeben werden, wie Gregor der Große bemerkt. 

 

Nichts Unreines erreicht die ewige Seligkeit

Das Fegfeuer ist zunächst der Ort, wo Gottes Liebe seine Gerechtigkeit besänftigt. Die Notwendigkeit des Fegfeuers ergibt sich einerseits aus der absoluten Reinheit Gottes. In der Apokalypse lesen wir von der großen Schönheit seiner Stadt, die aus lauterem Gold und Jaspis erbaut ist, deren kristallhelles Licht das des göttlichen Opferlammes ist. Dort steht aber auch geschrieben: „Nichts Unreines wird in sie eingehen“ (Offb 21,27). 

 

Die Gerechtigkeit verlangt, dass nur derjenige, der reinen Herzens ist, vor das Angesicht eines vollkommen reinen Gottes treten darf. Gäbe es aber kein Fegfeuer, dann wäre Gott unaussprechlich hart, ja sogar ungerecht. Denn wer könnte von sich zu behaupten wagen, er sei rein und makellos genug, um vor dem makellosen Lamm Gottes zu bestehen? Unzählige Menschen schleppen noch beim Eingang in die Ewigkeit die Schwäche ihrer Vergangenheit wie bleierne Gewichte mit sich. An unserem Tauftag legte uns die Kirche ein weißes Kleid an mit den Worten: „Empfange das weiße Kleid und bringe es makellos vor den Richterstuhl Unseres Herrn Jesus Christus, auf dass du das ewige Leben habest.“ Wie viele unter uns haben dieses Kleid so rein und ohne Befleckung durch die Sünde bewahrt, dass sie sogleich nach ihrem Tod in das Heer des Ewigen Königs eintreten könnten?

 

Wie viele Seelen, die aus diesem Leben scheiden, sind im Stande zu sagen, sie verließen diese Welt, ohne ihr übermäßig anzuhangen, ohne je ihr Talent vergraben zu haben, ohne jemals in Lieblosigkeit gehandelt zu haben, ohne sich jemals der Missachtung der heiligen Eingebungen oder eines unbedachten Wortes schuldig gemacht zu haben? Und für dies alles muss sich ja jeder Einzelne verantworten.

 

Ort der Reinigung

Alle Seelen, die beim Tod auch nur ein bisschen Gottesliebe in sich tragen, sind schön. Wenn es kein Fegfeuer gäbe, müssten sie ohne Erbarmen vom ewigen Richter zurückgewiesen werden, ihrer kleinen Mängel wegen. Ohne das Fegfeuer könnte Gott kaum verzeihen. Oder kann etwa ein Akt der vollkommenen Reue am Rande des Grabes z. B. dreißig Jahre der Sünde gerechterweise aufwiegen? Denken wir das Fegfeuer weg, dann müsste die unendliche Gerechtigkeit Gottes auch diejenigen abweisen, die sich zwar entschlossen haben, ihre Schulden zu bezahlen, aber noch nicht den letzten Heller bezahlt haben (vgl. Mt 5,26).

 

Im Fegfeuer verzeiht Gott, weil er Zeit hat, diese Seelen nochmals mit seinem Kreuz zu berühren, sie mit dem Meißel des Leidens nochmals zu behauen, damit sie in das große geistige Gebäude des himmlischen Jerusalems hineinpassen. Dort, am Ort der Reinigung, kann der Herr ihr Taufkleid reinwaschen lassen, damit sie in die makellose Reinheit des Himmels eintreten können. Dann können sie sich, geheilt durch die Berührung mit den reinigenden Flammen, zum Himmel aufschwingen, zur Stadt der Reinen, wo Christus in Ewigkeit der König und Maria die Königin ist.

 

Ort des Ausgleiches

Das Fegfeuer ist aber auch der Ort, wo des Menschen Liebe die menschliche Ungerechtigkeit ausgleichen darf. Leider werden sich die meisten Menschen des Undanks und der Ungerechtigkeit in ihrem Leben nicht bewusst, bis der Tod nach denen greift, die sie lieben. Erst dann empfinden sie voll Reue, dass ihre eigene Unfreundlichkeit und Lieblosigkeit wie Alpdruck auf ihnen lasten.

 

Es gibt oft die bittersten Tränen am offenen Grab, weil ein gutes Wort ungesagt, eine gute Tat ungetan blieb. Denken wir das Fegfeuer weg – wie bitter wäre dann unsere Trauer über unsere Lieblosigkeit, wie würde uns der Schmerz zerreißen wegen unserer Vergesslichkeit. Wie sinnlos und leer wären ohne das Fegfeuer die Tage, an denen wir unserer Toten gedenken.

 

Das Fegfeuer ist also auch ein Ort, wo die menschliche Liebe menschliche Ungerechtigkeit ausgleicht. Denn hier wird den Hinterbliebenen ermöglicht, die Schranken der Zeit und des Todes zu durchbrechen, die ungesagten Worte in Gebete, die versäumten Ehrungen in Sühneopfer, die nicht dargebrachte Liebe in Ablässe und Hilfe für das ewige Leben umzuwandeln.

 

Schon im Alten Testament lesen wir: „Es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, damit sie von ihren Sünden erlöst werden“ (2Makk 12,46).

 

Die Liebe besiegt den Tod

Das Fegfeuer erlaubt uns also, für unseren Undank zu sühnen, denn durch Gebet, Abtötung und Opfer bringen wir den Armen Seelen Freude und Trost. Auf Grabsteinen lässt sich manchmal lesen: „Amor vincit morten. – Die Liebe besiegt den Tod.“ Die übernatürliche Liebe ist tatsächlich stärker als der Tod, und deshalb muss auch unsere christliche Liebe zu denen dringen können, die schon vor uns abgeschieden sind.

 

Warum sollten Tod und Grab unserer Dankbarkeit und Liebe ein Ende setzen? Warum sollte die kalte Scholle uns hindern, unseren Undank wettzumachen? Der wahre Glaube gibt uns die Gewissheit, dass wir sie, die wir nicht mehr mit den Gaben des Diesseits erfreuen können, doch in den Händen der göttlichen Gerechtigkeit aufsuchen dürfen, um ihnen die Versicherung unserer Liebe und den Preis für ihre Erlösung zukommen zu lassen.

 

Dem Mann, der mit einer Schuldenlast stirbt, folgen die Verwünschungen seiner Gläubiger bis ins Grab nach. Wie aber sein guter Name durch die Arbeit seines Sohnes, der auch den letzten Cent zurückzahlt, wieder zu Ehren kommen kann, so können auch wir der Seele eines verstorbenen Freundes helfen, indem wir Hinterbliebenen unsere täglichen Bußwerke gegen die geistige Münze eintauschen, die er Gott als Kaufpreis für seine Erlösung schuldet.

 

Wie in einem Schmelzofen wird durch die Flammen der Liebe alles Unedle vom Gold dieser abgeschiedenen Seelen hinweggebrannt. Diese Seelen, die nicht in Feindschaft mit Gott gestorben, sondern im Kampf für den Sieg seiner Sacher auf dem Schlachtfeld des Lebens gefallen sind, haben nicht die Kraft, ihre Wunden selbst zu verbinden und zu heilen. Das bleibt uns überlassen, die wir noch am Leben sind, noch die Rüstung des Glaubens und den Schild der Erlösung tragen. Wir müssen ihre Wunden heilen, damit sie in den Reihen der Sieger am Triumphzug teilnehmen können. Wir können uns allerdings auch darauf verlassen, dass die Seele, die durch unser Almosen auf Erden an den Ewigen Tisch des Herrn gelangt, uns dies in der Ewigen Heimat nie vergessen wird.

 

Erbarmet euch, meine Freunde!“

Die Tatsache, dass unsere Liebe die verstorbenen Verwandten und Freunde auch im Jenseits noch erreichen kann, und dass wir durch Gebet und gute Werke, durch Ablässe und besonders durch das heilige Messopfer ihre Leiden mildern und ihre Leidenszeit abkürzen können, ist überaus tröstlich und ermutigend.

 

Während die armen Seelen noch von den reinigenden Flammen festgehalten werden, hören sie schon die Stimmen der Engel und Heiligen, die sie nach ihrer wahren Heimat rufen, aber allein können sie ihre Ketten nicht abwerfen, denn die Zeit ist vorbei, da sie selbst Verdienste um das Himmelreich sammeln konnten.

 

Erhören wir also nicht nur das Flehen unserer Verwandten und Freunde, sondern auch das Rufen all der unzähligen gefallenen Kämpfer in der leidenden Kirche, die noch das zerfetzte Gewand der zeitlichen Sündenstrafen tragen. In ihrem heißen Wunsch, die königlichen Gewänder zu empfangen, die sie zum Eintritt in den himmlischen Königspalast berechtigen, rufen sie uns zu: „Erbarmet euch meiner, erbarmet euch meiner, wenigstens ihr, meine Freunde, denn die Hand des Herrn hat mich getroffen“ (vgl. Ijob 19,21).

Pater Jaromír Kučírek FSSPX