
Von Pater Stefan Pfluger
Vom 7. bis 9. Oktober fand im Haus Porta Caeli, Lauterbach, die Jahrestagung der Ärztevereinigung St. Lukas e.V.[1] statt. Sie stellt ein Netzwerk von traditionstreuen Katholiken dar, die aktiv im Gesundheitswesen tätig sind. Ihre Ärzte beraten zusammen mit Moraltheologen Gläubige, die medizinisch-ethische Fragen haben. Erfahrene Ärzte und Pflegekräfte beraten junge Menschen bei ihrer Berufswahl. Die beiden Themenbereiche der Jahrestagung 2022 waren „Transhumanismus“ und „Transidentität“. Der vorliegende Artikel ist eine Überarbeitung des Vortrags des Distriktoberen.
Einleitung
Der hl. Franz von Assisi (1181-1226) betet in seinem Sonnengesang: „Du Höchster, Allmächtiger, einzig Guter, dein ist der Lobpreis und Ruhm, die Ehre und jegliches Benedeien. Dir allein, Höchster, gebühren sie. Und keiner der Menschen ist wert, dich im Munde zu führen.“
Der Freimaurer Giuliano Di Bernardo (*1939) schließt sein Buch The Future of Homo Sapiens mit den Worten: „Am Ende der Geschichte, nach sieben Millionen Jahren, wird der denkende Affe sich selbst zum Gott gemacht haben.“
Deutlicher lässt sich der Gegensatz zwischen Transhumanismus[2] und christlichem Menschenbild kaum darstellen. Auf der einen Seite der Mensch, der in einer Haltung der Anbetung, des Lobes und des Dankes vor Gott steht. Auf der anderen Seite der Mensch, der sich selbst zu Gott macht.
Der Transhumanismus hat letztlich ein deutliches Leitmotiv: Es ist das „Non serviam – Ich will nicht dienen“ Luzifers. Das meint nicht bloß Ungehorsam gegen Gottes Gebote. Es handelt sich um die Verweigerung der Bereitschaft, etwas Vorgegebenes anzunehmen und sich nach ihm zu richten. Der Mensch will vorbehaltlos, buchstäblich losgelöst von allem Vorgegebenen, selbst über alles bestimmen können.
Die Motive des Transhumanismus
Der Mensch will selbst Gott sein. Ähnlich deutlich wie Di Bernardo bringt dies Yuval Noah Harari (*1976) zum Ausdruck: „Nachdem wir die Menschheit über die animalische Ebene des Überlebenskampfes hinausgehoben haben, werden wir nun danach streben, Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo deus zu machen.“
Falls es dem Menschen nicht gelingt, Gott zu sein, soll er wenigstens ein Paradies hier auf Erden haben, in dem es ihm gutgeht. Kriege und gefährliche Krankheiten – ja sogar den Tod – soll es nicht mehr geben. Dafür soll gesorgt werden. Man meint, dass der Technologie in Verbindung mit der Medizin nahezu unbegrenzte Möglichkeit offenstehen: „Medizin, sowohl präventiv als auch regenerativ, unterstützt durch künstliche Intelligenz, wird dem Menschen die Möglichkeit geben, ohne unheilbare Krankheiten zu leben und eine Lebensspanne zu erreichen, die weit über seine heutigen Jahre hinausgeht“ (Di Bernardo). Armut soll es nicht mehr geben, sondern bloß noch Überfluss. So drückte sich Elon Musk (*1971) bei der Präsentation des humanoiden Roboters Tesla Optimus aus: „Er wird unsere Vorstellung von der Wirtschaft auf den Kopf stellen. Optimus wird im Grunde alles tun können, was Menschen nicht tun wollen. Optimus wird ein Zeitalter des Überflusses bringen. Es mag schwer vorstellbar sein, aber wenn man sieht, wie Optimus sich entwickelt, dann wird er die Welt in einem noch stärkeren Maße verändern, als die Autos es taten.“
Worin liegt die Ursache dieses Strebens nach Göttlichkeit bzw. Allmacht?
Nun, wenn der Mensch sich nicht mehr in der Hand Gottes geborgen fühlen kann, weil er Gott „abgeschafft“ hat, verliert er den Halt. Nach dem Psychiater Horst Eberhard Richter (1923–2011) führt der Verlust der Gotteskindschaft zu einer „untergründigen heillosen Angststimmung“, welcher der Mensch zu entkommen sucht durch „die totale Kontrolle über alle Ursachen und Kräfte“. Richter bezeichnet das „Entsetzen vor einer unerträglichen Verlorenheit und Ohnmacht in der Welt“ als „die eigentliche Antriebsenergie, die sich hinter dem Drang nach technischer Allmacht verbirgt“.
Der Transhumanismus ist pervers
Der Transhumanismus ist deshalb widernatürlich (pervers), weil er die Natur verneint und einen unversöhnlichen Gegensatz zu ihr bildet. Mit „Natur“ ist hier nicht die Umwelt gemeint (so wird der Begriff heute oft verwendet), sondern die Schöpfungsordnung, die vom Menschen unabhängig vorliegende Ordnung der Lebewesen und Dinge – eine Ordnung die der Mensch vorfindet und bejahen soll, aber leider auch verneinen kann.
Der Heidelberger Psychiater Thomas Fuchs (*1958) stellt in seinem Buch Verteidigung des Menschen – Grundfragen einer verkörperten Anthropologie fest: „Sobald der Gedanke einer göttlichen Schöpfungsordnung seine allgemeine Gültigkeit verloren hat, steht die Konstanz und Verbindlichkeit der menschlichen Natur in Frage.“
Dem Bestreben, den Menschen durch Technologie immer noch weiter zu verbessern, hält er entgegen, dass die menschliche Natur kaum noch verbesserungsfähig ist.
Man kann zwar die Aufmerksamkeitsleistungen künstlich erhöhen. Auf den ersten Blick scheint das erstrebenswert zu sein. Aber es bietet auch Gefahren. Wenn der Mensch zu sehr auf ein Objekt konzentriert ist, blendet er vielleicht andere wichtige Objekte aus. Fuchs fasst zusammen: „Eine generelle Steigerung der menschlichen Aufmerksamkeitsleistung jedoch hätte einen Verlust an Offenheit, Flexibilität und Beeindruckbarkeit durch Neues zum Preis.“
Auch Gedächtnisleistungen können beträchtlich gesteigert werden, wobei allerdings die Balance zwischen Erinnern und Vergessen verloren gehen könnte: „Das Vergessen erlaubt es auch, das Erlebte zu verarbeiten, abzulegen und so die potenziell lähmende Wirkung der Vergangenheit zu neutralisieren, die anderenfalls im Leben immer weiter anwachsen würde.“
Künstliche Mittel können sehr zur Verbesserung der Stimmung beitragen. Wenn der Mensch gewissermaßen gratis, ohne Anstrengung, Wohlbefinden und Glück genießen könnte, würde er sich nicht weiterentwickeln oder zu großen Taten durchringen. Sogar das Glückserleben würde flacher werden, weil das Glück als befriedigendes Resultat eigener Anstrengungen viel größer ist. Schädlich für den Menschen wäre dabei auch, dass er die Überwindung von Widerständen und Rückschlägen nicht in gleichem Maße einüben würde, was eine geringere Frustrationstoleranz zur Folge hätte.
Zur Frage von Altern und Tod schreibt Fuchs sehr treffend: „Erst mit dem Bewusstsein des Todes wächst die Wertschätzung des Lebens; nur das »Sein-zum-Tode« gibt dem Leben seinen eigentlichen Ernst. … Der Tod ist noch immer die wirksamste Einschränkung unserer Neigung zur Egozentrik und zum Narzissmus.“
Die menschliche Natur ist sehr gut geschaffen worden: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und fürwahr, es war sehr gut“ (Gen 1, 31). Daher ist es pervers, sie grundlegend verändern zu wollen.
Der Transhumanismus ist inkonsequent
Den Transhumanismus gutheißen kann nur jemand, der beharrlich inkonsequent ist.
Der Transhumanismus ist nämlich nur denkbar auf dem Boden der Überzeugung, dass alles, was wir am Menschen für geistig halten, in Wahrheit nichts anderes sei als das Ergebnis von blind ablaufenden biologischen Vorgängen. Leben, Bewusstsein und Intellekt könnten auch digital abgebildet werden – wir Menschen seien, um die Worte von Harari zu verwenden, ein „bloßer Algorithmus[3]“.
Wenn der Mensch einfach ein Algorithmus ist, ist er ein Wesen, das seinen biologischen Abläufen wehrlos ausgeliefert ist. Konsequenterweise haben die Vertreter dieser Anschauung ein deterministisches Menschenbild, das einhergeht mit der Leugnung des freien Willens. Sie halten dieses Menschenbild aber nicht konsequent durch.
Auch sie gehen im Alltag von einer gewissen Moral aus, die zwischen Gut und Böse unterscheidet. Eine erste Inkonsequenz. Denn wenn es keinen freien Willen gäbe, wäre dies das Ende der Moral. Es gäbe keine Schuld, aber auch kein Verdienst. Hitler wäre kein Verbrecher, Don Bosco wäre kein Heiliger.
Auch sie gehen im Alltag davon aus, dass Kunst und Kultur möglich sind. Eine zweite Inkonsequenz. Denn wenn es keinen freien Willen gäbe, wäre dies das Ende der Kultur: Schöpferische Tätigkeit wäre nicht möglich, Kreativität eine Illusion!
Auch sie gehen im Alltag davon aus, dass Wissenschaft möglich ist. Eine dritte Inkonsequenz. Denn wenn unser Geist aus Algorithmen besteht, ist jeder Anspruch auf Wahrheit unmöglich, denn die Übereinstimmung einer Idee mit der Wirklichkeit könnte nicht überprüft werden. Möglich wären bloß Aussagen über das Verhältnis verschiedener Ideen bzw. verschiedener Algorithmen, die aufeinander einwirken.
Genaugenommen wären nicht einmal solche Aussagen möglich, denn auch sie würden einen Blick „von außen“ voraussetzen, der ohne Bewusstsein nicht gegeben wäre. Eine vierte Inkonsequenz.
Die Unhaltbarkeit des Transhumanismus
Der Transhumanismus ist unhaltbar, weil der Mensch ein lebendes Wesen ist. Leben kann aber nicht gemacht, sondern höchstens simuliert werden. Stellen wir zur Veranschaulichung einen lebenden Menschen einem Roboter gegenüber und gehen wir dabei davon aus, es handle sich um einen so hochentwickelten Roboter, dass er äußerlich wie ein Mensch wirkt.
Der Mensch hat den Ursprung seiner Tätigkeit in sich, wird spontan aktiv. Der Roboter hat den Ursprung seiner Tätigkeit im Menschen, er muss eingeschaltet werden.
Der menschliche Leib entsteht aus einer ersten Zelle durch Teilung und Wachstum. Dabei ist er von Anfang an ein Ganzes, jede einzelne Zelle trägt den Bauplan des Ganzen. Der Roboter wächst nicht langsam selbst, sondern wird aus einzelnen Teilen zusammengesetzt.
Der Mensch kann sich selbst ernähren. Sein Stoffwechsel transformiert die Nahrung, so dass der Energiebedarf gedeckt ist. Der Roboter braucht eine Stromversorgung, man muss ihn anstecken oder aufladen.
Der menschliche Leib hat ein ausgeklügeltes System der Selbstregulation, das sich von selbst den unterschiedlichsten Umständen anpasst. Der Roboter muss dafür von außen entsprechend programmiert werden.
Der Mensch kann durch die Fortpflanzung sein Leben weitergeben. Das Kind ist den Eltern ähnlich und stellt eine zusätzliche Verwirklichung (Individualisierung) des „Menschseins“ dar. Der Roboter kann sich nicht fortpflanzen.
Vor allem aber – und das ist bei weitem der wichtigste Unterschied: Der Mensch hat eine geistige Seele, hat einen Intellekt und ist sich seiner selbst bewusst. Er kann über sich und seine Handlungen reflektieren und dabei eine Außenposition einnehmen. Der Roboter weiß und versteht gar nichts, er ist sich dessen, was er scheinbar tut, nicht bewusst. Ein Schach-Computer etwa kann Spiele gegen Großmeister gewinnen, weil er Millionen von möglichen Zügen in kürzester Zeit berechnen kann. Aber er weiß nichts davon, dass er Schach spielt, sondern führt bloß die Algorithmen aus, die man ihm einprogrammiert hat. Analog verhält es sich mit jedem andern Roboter. Mit anderen Worten: Selbst eine perfekte Computersimulation des Gehirns würde kein Bewusstsein aufweisen – genauso wenig wie die perfekte Computersimulation eines Wirbelsturms uns nass machen oder umwehen kann.
Es entspricht dem menschlichen Wesen, nach dem Sinn zu suchen, nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn der Dinge und der Ereignisse. Dieser Sinn kann bei den transhumanistischen Veränderungen nicht gefunden werden, wie sogar einer ihrer großen Befürworter (Harari) zugibt: „Die moderne Übereinkunft hat uns also beispiellose Macht versprochen – und ihr Versprechen gehalten. Und was ist der Preis dafür? Im Gegenzug für Macht erwartet der moderne Deal von uns, dass wir auf Sinn verzichten.“
Thomas Fuchs weist darauf hin, dass der Posthumanismus selbstwidersprüchlich ist. Wenn die menschliche Natur so radikal umgestaltet werden soll, führt dies zu einer neuen, posthumanen Art. Darin liegt ein innerer Widerspruch, denn der Mensch würde sich nicht entwickeln, sondern buchstäblich selbst abschaffen. Schon C.S. Lewis bezeichnete die Abschaffung des Menschen durch den Menschen als widersinniges Unterfangen, denn dabei wäre „das Wesen, das daraus Gewinn ziehen soll, und jenes, das geopfert wird, ein und dasselbe“.
Den Szenarien der Transhumanisten fehlt der Realitätsbezug. Die extremsten Vertreter streben ein mind uploading an. Damit ist gemeint, dass man die Struktur eines Gehirns detailliert scannt und ein getreues Software-Modell erstellt. Dieses soll sich dann auf einer passenden Hardware genauso verhalten wie das originale Gehirn. Die Phantasten, die daran glauben, meinen: „Im Erfolgsfall führt das Verfahren zu einer qualitativen Reproduktion des ursprünglichen Geistes – samt Erinnerung und Persönlichkeit – als Software auf einem Computer.“ Man kann den Gedanken zu Ende führen und sich die Frage stellen, was geschieht, wenn man dieses mind uploading nicht nur auf einem, sondern auf mehreren Computern vornehmen würde? Eine Mehrfachkopie eines Bewusstseins? – Das ist vollkommen absurd!
Diese Horrorvorstellungen zeigen, wie verrückt der Transhumanismus ist und wie losgelöst von jeder Bindung an eine gottgewollte Schöpfung und Ordnung. Glücklicherweise werden sie so nie möglich sein. Bewusstsein, Intellekt und Personalität sind etwas Geistiges. Auch die besten Rechner der Welt können bewusstes und intelligentes Verhalten nur nachahmen oder simulieren, nie leben!
Anmerkungen
[1] Mailadresse: [email protected]
[2] Unter Transhumanismus verstehe ich hier das ganze Bestreben, durch Technologie die Grenzen menschlicher Möglichkeiten zu erweitern, sei es physisch, intellektuell oder psychisch. Unter Posthumanismus verstehe ich die grundlegende gentechnische oder technologische Umformung des Körpers, die nicht nur die Grenzen verschieben, sondern das Menschsein, wie wir es kennen, überwinden will. Voraussetzung ist dabei die Leugnung einer Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen.
[3] Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift aus wohldefinierten Einzelschritten zur Lösung eines Problems. Bei der Problemlösung wird eine bestimmte Eingabe in eine bestimmte Ausgabe überführt (input – output).