Erzbischof Marcel Lefebvre Konzilsanklage oder Konzilsentschuldigung?

(aus dem Buch „Sie haben ihn entthront“)

Die loyalen und einigermaßen klarsichtigen Köpfe sprechen von der „Krise der Kirche“, um die nachkonziliare Epoche zu bezeichnen. Einst sprach man von der „arianischen Krise", der „protestantischen Krise“, doch niemals von der „Krise der Kirche“. Aber unglücklicherweise sind wir nicht einig darin, welchen Ursachen diese Tragödie zuzuschreiben ist. 

Kardinal Ratzinger zum Beispiel sieht wohl die Krise, spricht jedoch das Konzil und die nachkonziliaren Reformen vollständig von der Schuld frei. Er gibt zunächst zu, dass es sich um eine Krise handelt:

 „Die Entwicklungen seit dem Konzil scheinen in eklatantem Widerspruch zu den Erwartungen aller, angefangen von Johannes XXIII. und Paul VI., zu stehen. (...) Was die Päpste und die Konzilsväter erwarteten, war eine neue katholische Einheit; stattdessen ist man auf eine Uneinigkeit zugesteuert, die - um die Worte von Paul VI. zu gebrauchen - von der Selbstkritik zur Selbstzerstörung überzugehen schien. Man hat sich eine neue Begeisterung erhofft, und man landete dagegen zu oft im Überdruß und in der Entmutigung. Man hatte sich einen Schritt nach vorn erwartet und man fand sich einem fortschreitenden Prozeß des Verfalls gegenüber . ..“ (Zur Lage des Glaubens, 1985, S. 27)

Und hier die Erklärung der Krise, wie sie der Kardinal gibt :

„Ich bin überzeugt, daß die Schäden, auf die wir in diesen zwanzig Jahren [Anm. d. R.: 1985] zugegangen sind, weniger dem ,wahren' Konzil zuzuschreiben sind als vielmehr - auf interner Ebene – der Tatsache, daß sich latent vorhandene polemische und zentrifugale Kräfte in den Vordergrund gedrängt haben; und auf externer Ebene durch das Konfrontiertsein mit einer kulturellen Revolution im Westen: dem Erfolg der oberen Mittelschicht, des neuen ‚Tertiärbürgertums' mit seiner liberalradikalen Ideologie individualistischer, rationalistischer und hedonistischer Prägung,“ (Zur Lage des Glaubens, 1985, S. 28)

Und etwas weiter unten prangert Kardinal Ratzinger das an, was nach ihm das wahrhaft verantwortliche „Interne“ der Krise ist – ein „Konzils-Ungeist“: 

„Diesem ,wahren Konzil' . . . stellte man schon während der Sitzungen und mehr und mehr dann in der darauffolgenden Zeit einen angeblichen ,Geist des Konzils' entgegen, der in Wirklichkeit ein wahrer ,Ungeist' ist. Nach diesem Konzils-Ungeist wäre alles, was neu ist (oder angeblich neu ist: denn wieviele alte Häresien sind in diesen Jahren wieder aufgetaucht, die als Neuheit ausgegeben wurden), immer und in jedem Fall besser als das, was gewesen ist oder was ist. Es ist der Ungeist, der die Kirchengeschichte erst mit dem II. Vatikanum als einer Art Nullpunkt beginnen läßt.“ (Zur Lage des Glaubens, 1985, S. 32f)

Sodann schlägt der Kardinal seine Lösung vor: Rückkehr zum wahren Konzil, wobei es 

„nicht bloß als ein Ausgangspunkt angesehen wird, von dem man sich laufend entfernt, sondern als eine Basis, auf der beständig neu aufgebaut werden muß“. 

Ich bin gern bereit, äußere Gründe der Krise der Kirche in Betracht zu ziehen, namentlich eine liberale und genusssüchtige Mentalität, die sich in der Gesellschaft, selbst in der christlichen, ausgebreitet hat, aber das ist es eben: Was hat das II. Vatikanum getan, um sich ihr entgegenzustellen? Nichts! Oder vielmehr: Vatikanum II hat nur noch in diese Richtung gedrängt! Ich bringe einen Vergleich: Was würden Sie denken, wenn angesichts einer drohenden Springflut die holländische Regierung eines Tages beschlösse, die Deiche zu öffnen, um den Anprall der Wassermassen zu vermeiden, und sich nachher, nach der vollständigen Überschwemmung ihres Landes, so entschuldigte: „Wir können nichts dafür, das war die Springflut!“? Genau das aber hat das Konzil gemacht: Es hat dem Weltgeist sämtliche traditionellen Barrieren geöffnet, indem es die Öffnung zur Welt erklärte durch die Religionsfreiheit, durch die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes), die beide echter Konzilsgeist sind und nicht ein Konzils-Ungeist! 

Was den Konzils-Ungeist betrifft, so gebe ich gewiss sein Vorhandensein auf dem Konzil und nach dem Konzil zu in jenen ganz und gar revolutionären Ansichten eines Küng, Boff usw. …, welche die Ratzinger, Congar usw. weit hinter sich ließen. Ich räume ein, dass dieser Ungeist überall die Seminare und die Universitäten angefressen hat; und hier sieht der Universitätsmann und Theologe Ratzinger sehr wohl die Schäden, das ist sein Gebiet. 

Aber ich behaupte zweierlei: Das, was Kardinal Ratzinger „Konzils-Ungeist“ nennt, ist nichts als das letzte Ergebnis der Theorien von Theologen, die auf dem Konzil Experten waren! Zwischen dem Geist des II. Vatikanums und dem angeblichen Ungeist sehe ich nur einen Gradunterschied und es erscheint mir entscheidend, dass der Ungeist auf den Konzilsgeist selbst eingewirkt hat. 

Zweitens muss der Geist des Konzils, dieser liberale Geist, den ich oben lang und breit analysiert habe und der die Wurzel fast aller Konzilstexte und aller darauf gefolgten Reformen ist, selbst auf die Anklagebank kommen. 

Anders ausgedrückt: Mir scheint „Ich klage das Konzil an“ die notwendige Antwort auf das „Ich entschuldige das Konzil“ Kardinal Ratzingers zu sein! Ich erkläre mich näher: Ich behaupte, und ich werde es beweisen, dass die Krise der Kirche wesentlich auf die nachkonziliaren Reformen zurückzuführen ist, die von den offiziellsten Autoritäten der Kirche kamen und zwar in Anwendung der Doktrin und der Direktiven des II. Vatikanums. Es gab also nichts Marginales und nichts Unterschwelliges unter den wesentlichen Ursachen des nachkonziliaren Unheils! Vergessen wir nicht, dass es dieselben Männer sind und vor allem derselbe Papst, Paul VI., die das Konzil gemacht haben und die es danach auf die methodischste und offiziellste Weise von der Welt angewendet haben, indem sie von ihrer hierarchischen Autorität Gebrauch machten: So war das neue Missale Pauls VI. “ex decreto sacrosancti oecumenici concilii Vaticani II instauratum, auctoritate Pauli PP. VI promulgatum” („aufgrund des Dekrets des heiligen Zweiten Vatikanischen ökumenischen Konzils veranstaltet, mit der Autorität Papst Pauls VI. promulgiert“).